22.03.2017 01:20
Bloß keine Gleichmacherei! Gerd Scobels
subtiles Plädoyer für soziale Ungleichheit
Udo Brandes hat sich mit der Sendung „Scobel“
näher beschäftigt. Dort war soziale Ungleichheit das Thema. Das Fazit von Udo
Brandes: An der sichtbaren Oberfläche war dies eine Sendung, die soziale
Ungleichheit anklagt. Aber wer genauer hinschaute, konnte auch ganz andere
Botschaften entdecken. [Quelle: nds.de / Albrecht Müller] JWD
Bloß keine Gleichmacherei!
Gerd Scobels subtiles Plädoyer für soziale Ungleichheit
Screenshot | Quelle:
3sat.de | Die ungleiche Gesellschaft
Am 16. Februar Februar war in der 3sat-Sendung „Scobel“ soziale Ungleichheit das
Thema. Die Scobel-Redaktion offenbarte dabei unfreiwillig die Ressentiments des
Bildungsbürgertums. Gleichzeitig konnte man eine ideologische
Überzeugungstechnik beobachten, die Bourdieu schon vor Jahrzehnten in seiner
Schrift „Über das Fernsehen“ beschrieben hat: Die Fassade der Sendung war
gesellschaftskritisch, die transportierten Botschaften aber letztlich
konservativ.
Dies funktionierte zum einen über die eingeladenen Gäste. Ein Gast war der
Politologe und Armutsforscher Christoph Butterwegge. Er kritisierte in der Tat
von links kompetent, argumentativ fundiert und prägnant auf den Punkt gebracht
die gesellschaftlichen Verhältnisse. Sein Tenor: Armut wurde bewusst durch
neoliberale Politik produziert und ist durch die Strukturen der Gesellschaft
bedingt, z. B. durch das Schulsystem, das so angelegt ist, dass es soziale
Ungleichheit systematisch reproduziert.
Dann waren da noch Dorothea Siems von der Tageszeitung „Die Welt“ und der
Soziologe Steffen Mau von der Humboldt-Universität Berlin. Dorothea Siems
äußerte Verständnis für das Problem sozialer Ungleichheit, sah darin aber kein
grundsätzliches, durch die gesellschaftlichen Strukturen bedingtes Problem – und
lenkte von den eigentlichen Problemen mit fadenscheinigen Detail-Argumenten ab,
wie z. B. dass durch eine unzureichende Integration von Migranten Armut
importiert werde.
Steffen Mau schließlich, Soziologie-Professor an der Humboldt-Universität, kann
man als typischen Linksliberalen ansehen, der zwar soziale Ungleichheit durchaus
kritisiert, aber alle politischen Vorstellungen jenseits von offener und
globalisierter Gesellschaft als „rückwärtsgewandte Rezepte“ stigmatisiert. Im
Grunde erfüllt er damit genau das, was Bernd Stegemann in seinem Essay „Das
Gespenst des Populismus“ kritisierte: Dass die Linksliberalen sich vor den
Karren der Neoliberalen spannen ließen und so etwas wie ein linker Flügel des
Neoliberalismus seien (siehe dazu auch die
Rezension auf den Nachdenkseiten).
Während Siems ziemlich eindeutig als Konservative identifizierbar war, wirkten
Mau und Scobel auf den ersten Blick so, als seien sie links verortet. Denn sie
positionierten sich erkennbar links von Siems. Als Zuschauer konnte man also den
Eindruck haben: Hier wird soziale Ungleichheit im Verhältnis 3 (Butterwegge, Mau
und Scobel) zu 1 (Siems) kritisiert. Hier findet also deutliche
Gesellschaftskritik statt.
In Wirklichkeit fand hier aber eine subtile ideologische Beeinflussung statt,
wie sie Pierre Bourdieu in seinem Buch „Über das Fernsehen“ für
Diskussionsrunden und Talkshows thematisiert hat. Deren Manipulation
funktioniere, so Bourdieu, über die nicht sichtbare Arbeit:
„Die Runde selbst ist das Ergebnis einer unsichtbar bleibenden Arbeit. Da ist
zum Beispiel die ganze Arbeit der Einladung: Manche Leute lädt man gar nicht
erst ein; andere lädt man ein, und sie lehnen ab. Schließlich steht die Runde
und das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare. Ein konstruiertes Sichtbares zeigt
die sozialen Voraussetzungen seiner Konstruktion nicht.“ (Pierre Bourdieu, Über
das Fernsehen, S. 46-47).
Mit anderen Worten: Die Zuschauer können nicht wahrnehmen, wie der
Diskussionsverlauf schon vorab strukturiert wurde. Welcher Diskutant warum
eingeladen wurde, sprich: Welche Rolle er nach den Vorstellungen der Redaktion
besetzen soll.
Die unterschwellige Botschaft dieser Scobel-Sendung über das Sichtbare: Ein
Linker (Butterwegge), eine Konservative (Dorothea Siems) und zwei weitere Linke,
nicht ganz so links wie Butterwegge, aber links, nämlich der Soziologe Mau und
Moderator Scobel. Also: Eine Rechte gegen drei Linke. Noch
gesellschaftskritischer geht es doch wirklich nicht!
Aber wer die Sendung genauer analysiert, stellt fest: Ein Linker gegen eine
Konservative und zwei Liberale, die die Verhältnisse zwar kritisieren, aber im
Unterschied zu Butterwegge nicht wirklich in Frage stellen – und eigentlich auch
die konservativen Botschaften der Neoliberalen vermitteln. Wie z. B. Prof. Mau,
der Kritik an der Globalisierung als „rückwärtsgewandte Rezepte“ in eine nicht
wieder herstellbare Vergangenheit kritisierte. Man müsse stattdessen nach vorn
schauen, wie eine Gesellschaft das Problem der Ungleichheit angehen und unter
den Bedingungen der Offenheit, der internationalen Vernetzung und
internationaler Märkte angehen könne. Freihandel und gesellschaftliche Offenheit
ist in dieser typisch liberalen Sichtweise offenbar ein unverrückbares Dogma.
Ein Dogma, das nach bisheriger historischer Erfahrung soziale Ungleichheit und
Armut massiv gefördert hat.
Die unterschwellig konservative Botschaft wurde auch über die Einspielfilme
vermittelt: In einem Einspieler wurden die Folgen sozialer Ungleichheit
analysiert. Also zum Beispiel, dass Kinder aus sozial benachteiligten Klassen
weitaus weniger Mittel und Möglichkeiten haben, sich Bildung anzueignen, als
Kinder aus der Mittel- und Oberschicht. Im sachlichen Kern stimmten alle
Aussagen. Was ich aber sehr bemerkenswert fand, war die klischeehafte und
ressentimentgeladene szenische Darstellung der sozialen Klassen, die von Armut
betroffen sind:
Da wurde in der Wohnung ein Aschenbecher gezeigt, der von Zigarettenkippen
überquoll. Die Mädchen und jungen Frauen im Film ernähren sich von Pommes,
Hamburgern und Cola, rauchen und sitzen vor der Glotze. Dieser Effekt über die
gezeigten Bilder wurde noch durch die musikalische Unterlegung dramaturgisch
gesteigert: Als im Kontrast dazu die kultivierte Welt des Bildungsbürgertums
vorgeführt wurde, setzte eine Heile-Welt-Musik ein. Was kommt rüber?
Auf der einen Seite sehen wir eine kultivierte, sich gesund ernährende und um
ihre Kinder kümmernde Bourgeoisie (Mutter bringt der Tochter einen Obstteller),
auf der anderen Seite, eine primitive Unterschicht, die sich ungesund ernährt,
raucht und Fernsehen glotzt. Im völligen Kontrast dazu, der verständnisvolle
Erzählerton aus dem Off.
Unterschwellige Botschaft: Es ist kein Wunder, dass es diesen unkultivierten
Menschen schlecht geht. Soziale Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit hat
eben auch etwas mit Charaktereigenschaften zu tun.
Wenn man sich diese unterschwelligen Botschaften bewusst macht, kommt man zum
Ergebnis, dass dies im Grunde keine Sendung gegen soziale Ungleichheit war.
Sondern eine Sendung, die soziale Ungleichheit bzw. die bestehenden
Machtverhältnisse eher legitimierte und die Botschaft vermittelte: Man muss zwar
die Auswüchse korrigieren. Aber ansonsten kann alles so bleiben, wie es ist.
Dafür spricht auch Scobels Schlusswort, das sich gegen „Gleichmacherei“
richtete, wobei er in einem kurzen Nebensatz zu Unrecht auch noch Christoph
Butterwegge für seine Position vereinnahmt, obwohl dieser nichts
Dementsprechendes gesagt hatte:
„Der Philosoph Harry Frankfurt argumentiert, wie ich finde zu Recht, dass
ökonomische Gleichheit kein moralischer Wert an sich ist. Nicht nur weil
Gleichmacherei unrealistisch ist, vor allem, weil nicht alle Menschen, Herr
Butterwegge hat’s gerade gesagt, dasselbe wollen und sich mit unterschiedlichen
Dingen durchaus zufrieden geben. Also alles gut? Nein! Denn empörend bleibt die
Armut Vieler: Und das ist das eigentliche Thema: Nicht die Forderung nach
Gleichheit, sondern der Abbau der Armut. Alle zusammen müssen endlich eine
Gesellschaft reparieren, in der viel zu viele viel zu wenig besitzen, während
andere deutlich mehr als genug haben. Schauen wir also anders als Trump in den
USA hier den Realitäten ins Auge. Schauen wir auf die, deren Realität wirklich
bedroht ist und verbessern wir gemeinsam ihre Situation. Wenn Armut abgeschafft
ist, kann man entspannt Unterschiede akzeptieren und sogar genießen.“
Was ich an diesem Statement gegen „Gleichmacherei“ bemerkenswert finde: Für das
Bildungsbürgertum sind Unterschiede, die Individualität ausdrücken, offenbar
letztlich immer materielle sprich Einkommensunterschiede. Theodor Fontane meinte
mal spöttisch über die Bildungsbürger, dass diese auch nur Geldsäcke seien.
Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er Recht hatte.
01.11.2012 [ NewCaliban via Youtube] Pierre Bourdieu - Die feinen Unterschiede
Dokumentation des Hessischen Rundfunks vom 3.11.1983 über den französischen
Sozialphilosophen Pierre Bourdieu (+ 2002).
Quelle: NewCaliban via Youtube |
veröffentlicht 01.11.2012
Bourdieus Analyse des kulturellen Konsums und des Kunstgeschmacks der Ober-,
Mittel- und "Volksklasse" (classe populaire) ist trotz der Anforderungen, die
sie stellt, für alle von Interesse, die ihre eigenen, meist als
selbstverständlich aufgefassten kulturellen Vorlieben und Praktiken überprüfen
möchten. Der Reiz seiner Theorie liegt darin, dass er strikt phänomenologisch
vorgeht und immer im Kontakt zum konkreten Alltag bleibt. Besonders charmant ist
Bourdieus Hommage an sein großes Vorbild Norbert Elias und dessen "Prozess der
Zivilisation".
Ich danke Bourdieu, dass er mir Konzepte und Begriffe bietet, um die
Ursachen zu verstehen, die mich krank und kaputt machen. Bourdieu
hat mir die Möglichkeit gegeben, das was ich erlebe, interpretieren
und artikulieren zu können. Dummerweise möchte diese Sprache nur
keiner von denen verstehen, die helfen könnten und sollten. Dabei
spielt es tatsächlich kaum eine Rolle, ob rechte oder linke
Herrschaftsklassenfraktionen. Beide beuten mich auf ihre Weise aus.
Ich könnte KOTZEN vor Zorn.?
Detlef Feucht vor 1 Jahr
+Dominik Roeding genau wie du es gesagt hast, empfinde ich auch!!!
Bourdieu hat mir im Studium die Augen geöffnet und ich konnte unsere
Umwelt ein bisschen besser verstehen!!! DANKE Pierre Bourdieu !!!?
25.10.2015 00:00 Ja, es gibt eine herrschende imperialistische Klasse! Der US-Publizist Paul Street untersucht den Einfluss des
"Council on Foreign Relations" auf die Politik der USA. - Die jüngste Geschichte besteht nicht nur
aus zufällig aneinander gereihten Ereignissen und ist auch nicht das alleinige
Ergebnis eines abgekarteten Spiels einer kleinen Clique übermächtiger
Verschwörer. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Ein relativ großer Kader
aus klassenbewussten, systemtreuen und im Hintergrund agierenden Drahtziehern
die an der Spitze der Konzerne und der Regierung stehen, bestimmen den
imperialistischen Kurs in der gegenwärtigen US-Politik... [Quelle:
luftpost-kl.de] JWD..weiterlesen
28.11.2014 15:20 ARD-Propaganda - Die Anne Will GmbH hat wieder zugeschlagen
"Die Will Media GmbH ist eine Produktionsfirma, die Sendungen im deutschen
Fernsehen produziert. Produziert wird die Sendung Anne Will (ARD). Das
Unternehmen hat seinen Sitz in Berlin und ging als
Vorratsgesellschaft aus der Lessia Vermögensverwaltungsgesellschaft mbH
hervor", ist bei
Wikipedia zu lesen. Pikanterweise wurde die Lessia
Vermögensverwaltungsgesellschaft zumindest teilweise mit Kapital eines
Günstlings unter Jelzin, dem russischen
Ex-Oligarchen Dr. Arngolt Bekker gegründet. Später unter Putin, welcher
dreist auch von Oligarchen Steuern forderte, kam es zum Zerwürfnis, weshalb sich
der Bekker-Clan in Richtung Westen (Bremen, Emden, Hamburg), mit einem
geschätzten Vermögen von 340 Mill. US Dollar absetzte. JWD
..weiterlesen
18.02.2013 12:45
In der neoliberalen Ideologie gibt es kein Marktversagen - trotz Dauerkrise
nichts dazu gelernt
Prof. Philip Mirowski* erläutert in einem Interview,
warum wir eine neue Erzählung als Fundament für eine andere Wirtschaftstheorie
benötigen und beklagt, dass trotz Dauerkrise intellektuell und strukturell alles
beim alten geblieben ist. JWD
..weiterlesen
16.02.2013 17:45
Ausmaß steigender sozialer Ungleichheit
Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler* belegt in
seinem neuen Buch das Auseinanderdriften von Arm und Reich. Er macht dies mit
einer Fülle von statistischen Daten deutlich, unterlässt aber eine nähere
Analyse zu den Ursachen für diese Entwicklung. [Quelle: hpd.de] JWD
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10.05.2012 10:00
Bertelsmann und Springerpresse läuft Amok: Helle Aufregung bei den
neoliberalen Kampf-Hilfstruppen
Finanzkrise -
Auf welch mieses Niveau der deutsche Mainstream-Journalismus gesunken ist, kann beispielhaft an der völlig neben der Sache liegenden
Berichterstattung von Spiegel- Online, einem so genannten 'Leitmedium' beurteilt
werden. Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen, Hauptsache es passt in die
gewünschte Message. Der Zweck heiligt die Mittel. Mit Journalismus hat das sehr
wenig bis nichts zu tun. JWD
..mehr
09.05.2012 16:00
Bauernaufstände der Neuzeit? Die geknechteten und ausgemer(k)elten begehren
auf und wählen soziale Parteien
Frankreich - In der Tat war es alles in allem ein erfreuliches Wahlergebnis am
vergangenen Sonntag. Und das nicht nur in Frankreich. Der Österreicher Robert
Misik zitiert hoffnungsvolle Worte von Paul Krug über „Die Weisheit der
griechischen und französischen Wähler“ und fügt an, „die Protagonisten der
neoliberalen Kamikaze-Politik“ würden „natürlich nicht so einfach von ihren
Vodoo-Ideen, 'der Genesung durch Leiden’ abrücken, aber ab jetzt führen sie
Rückzugsgefechte“. JWD
..mehr
25.03.2011 11:30
"Der unberechenbare Wähler - Politik im Dilemma?"
Ein harmloses Beispiel politischer Meinungsmache einer
neutralen, objektiven Gesprächsrunde, wie der unbedarfte
Zuschauer glauben könnte, gestern Abend bei Phönix.
JWD ..mehr