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04.08.2017 10:30
Abgas-Anarchie
Das Ergebnis des mit großem Tamtam angekündigten „Diesel-Gipfels“ blieb sogar
noch hinter den ohnehin schon sehr niedrig bemessenen Erwartungen zurück.
Offensichtlich hat die Kungelei zwischen Automobilherstellern und Politik in der
Dieselrepublik Deutschland bereits ein irreparables Maß angenommen. Die
Kommentare der meisten Medien sind dementsprechend verheerend. Man muss sich
zunächst einmal die ganz grundsätzlichen Fragen stellen, um die volle Tragweite
dessen zu verstehen, was gestern in Berlin seinen vorläufigen Höhepunkt hatte... [Quelle:nds.de
| Jens Berger] JWD
...Vor den Augen der Öffentlichkeit haben Politik und Wirtschaft nicht nur dem
Verbraucher, sondern auch dem Rechtsstaat den Stinkefinger gezeigt. Gesetze und
EU-Verordnungen gelten offenbar nicht für Deutschlands Schlüsselindustrie. Wer
so agiert, darf sich über die fortschreitende Politik- oder gar
Systemverdrossenheit nicht beschweren. Doch Obacht – schmutzige Diesel sind
beileibe kein rein deutsches Problem. Ausländische Hersteller machen sich einen
schlanken Fuß. Das sollte man nicht aus dem Auge verlieren.
Was wir unter dem Begriff „Euro 5“ oder „Euro 6“ kennen, ist bürokratisch
korrekt formuliert die „Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen
hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen“.
Hinter diesem schaurigen Titel verbirgt sich ein ganzer Wust von
Abgas-Grenzwerten, die PKW einhalten müssen, um in der EU eine Typgenehmigung zu
bekommen. Autos ohne eine solche Typgenehmigung dürfen in der EU nicht
zugelassen werden. National erteilt das Kraftfahrtbundesamt Typgenehmigungen,
die dann auch ausdrücklich bescheinigen, dass die betreffenden Fahrzeuge die
EU-Verordnungen erfüllen. Und hier fängt der eigentliche Skandal bereits an.
Breit angelegte Testreihen des Fachverbands ICCT hatten
ergeben, dass die Stickoxid-Emissionen moderner Euro-6-Dieselfahrzeuge im
Schnitt um den Faktor 7 über dem gesetzlichen Grenzwert liegen. 22 von 32
getesteten Modellen hätten demnach nie eine Typgenehmigung bekommen dürfen. Was
in den deutschen Medien als „VW-Skandal“ die Runde machte und heute als
„Kartell“ deutscher Hersteller verkürzt wird, war von Anfang an ein Problem der
gesamten Branche.
Was folgte, war der erste handfeste Skandal. Anstatt den Herstellern ein
Ultimatum zu stellen, definierte im Oktober 2015 ein Fachausschuss der EU einen
„Konformitätsfaktor“.
Ab September dieses Jahres gilt, dass Dieselfahrzeuge bei Typenzulassungen 110%
mehr Stickoxide ausstoßen dürfen, als es die EU-Verordnung gestattet. Ab 2020
soll der Konformitätsfaktor gesenkt, dann dürfen Fahrzeuge noch 50% mehr
Stickoxide ausstoßen als ursprünglich vorgesehen. De facto wurde also von der
EU Euro 6 klammheimlich wieder abgeschafft – denn der Stickoxid-Grenzwert
der nun gilt, liegt mit 168 mg/km NOX nur noch knapp unter dem alten Euro-5-Wert
von 180 mg/km NOX aus dem Jahre 2009.

Quelle: nds.de (verlinkt)
Doch dieses großzügige Entgegenkommen der Politik an die Automobillobby reicht
noch nicht einmal im Ansatz, um die modernen Diesel-Fahrzeuge gemäß der
EU-Verordnungen auf Europas Straßen zulassungsfähig zu machen. Testreihen des
Umweltbundesamtes
ergaben im April dieses Jahres, dass der reale
Stickstoffdioxidausstoß der Dieselflotte stolze 767 mg/km NOX beträgt. Die
getesteten Fahrzeuge mit Euro-6-Zulassung stießen im Schnitt 507 mg/km NOX aus.
Das übertrifft nicht nur den bereits verwässerten Euro-6-Grenzwert um ein
Vielfaches, sondern liegt sogar noch über dem höchsten jemals festgelegten
Grenzwert von 500 mg/km NOX der Euro-3-Norm aus dem Jahre 2000! Und das muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Die modernsten Diesel-Fahrzeuge auf
Europas Straßen hätten bei sorgfältiger Prüfung im Jahre 2000 keine Zulassung
bekommen, weil sie zu umweltschädlich sind.
An diesem extremen Widerspruch ändert auch der Minimalkonsens des gestrigen
Diesel-Gipfel nichts. Es ist kaum anzunehmen, dass der von den Herstellern
versprochene „Patch“ der Betriebssoftware überhaupt etwas bringt. Aber selbst
die versprochene 25% bis 30% Reduktion der Stickoxide (NOX) ist ein schlechter
Witz, wenn man sich die Daten des Umweltbundesamtes einmal anschaut. Ein
Mercedes C 220 CDI (Euro 5) stieß im UBA-Test 990 mg/km NOX aus. Der BMW X3
xDrive 20d (Euro 6) gehörte schon zu den „Sauberen“ unter den Sündern, lag
jedoch mit 383 mg/km NOX immer noch weit über den Grenzwerten. Noch nicht einmal
beim „sauberen“ BMW reicht eine Reduktion von 30% auch nur im Ansatz, um die
verwässerten gesetzlichen Grenzwerte einzuhalten.
Das Ergebnis des Diesel-Gipfels ist also eine staatlich tolerierte Anarchie.
Gesetze, Verordnungen, Normen und Grenzwerte existieren zwar auf dem Papier,
haben aber keine Bedeutung, wenn sie von industriell übergeordnetem Interesse
sind. Die Gesundheit der Bürger ist ganz offensichtlich das unwichtigere Gut.
Dieselrepublik Deutschland.
Es wäre aber auch falsch, die ganze Thematik auf Deutschland zu begrenzen.
Richtig ist, dass das vom SPIEGEL aufgedeckte „Diesel-Kartell“ nur aus deutschen
Premiumherstellern besteht – aber auch nur deshalb, weil ausländische
Interessenten abgewiesen wurden. Der französische PSA-Konzern (Peugeot, Citroen,
Opel) hätte beispielsweise gerne beim Kartell mitgemacht, wurde aber nicht
hereingelassen. Der dreckigste Diesel des UBA-Tests ist beispielsweise ein Fiat
Doblo (Euro 5), der mit 1.483 mg/km NOX den Grenzwert um mehr als das Achtfache
reißt. Und auch der Kia Optima (Euro 5, 1.383 mg/km NOX), der Renault Grand
Scénic (Euro 6, 937 mg/km NOX), der Mazda CX-5 (Euro 6, 498 mg/km NOX) und der
Peugeot 508 (Euro 6, 469 mg/km NOX) zeigen, dass zu hohe Stickoxide beileibe
kein rein deutsches Problem sind.
Bei all dem Trubel um VW, „Schummelsoftware“, Kartelle und Dieselgipfel geraten
die ausländischen Hersteller gerne aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit. Das ist
fatal. Egal, was man vom Diesel-Gipfel und den versprochenen Patches halten mag
– Besitzer ausländischer Dreckschleudern gehen komplett leer aus und andere
EU-Länder tun sich auch nicht eben mit progressiver Politik gegenüber der
Automobilbranche hervor. Dreckige Diesel sind kein deutsches Problem, sondern
ein Problem der gesamten Branche!
Das mickrige Ergebnis des Dieselgipfels wird von den meisten Medien als Erfolg
der Automobilbranche interpretiert. Doch das ist falsch. Was die Hersteller
errungen haben, ist bestenfalls ein Pyrrhussieg, der sich schnell zu einem
Desaster entwickeln könnte. Zwei Risikofaktoren saßen nämlich gestern nicht mit
am Tisch – die Gerichte und die EU-Kommission. Bereits in der Vergangenheit hat
die EU-Kommission sich äußerst zerknirscht gezeigt, weil Deutschland die
Abgasnormen einfach nicht ernst nimmt. Die nicht eben uninteressante Frage,
welche Strafe denn nun den Herstellern droht, da sie sich nicht an die
Abgasnormen halten, kann beispielsweise niemand beantworten. Warum? Weil
Deutschland immer noch keine Strafen bei Verstößen gegen die Abgasnormen
festgelegt hat, obgleich man dies laut EU-Regeln bereits 2009 hätte umsetzen
müssen. Nun läuft ein Vertragsverletzungsverfahren. Sicher nicht das letzte.
Sollte die EU es ernst meinen, würde am Ende des Weges eine Klage gegen
Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof stehen, die dann für die
Bundesregierung bindend wäre.
Noch größere Gefahr droht jedoch aus den Städten. Das Stuttgarter
Verwaltungsgericht hat klipp und klar entschieden, dass „Nachrüstungen“ für
Dieselfahrzeuge keine Option sei, um Fahrverbote abzuwenden. Es wird immer
unwahrscheinlicher, dass die Politik aus dieser Sache noch mit
industriefreundlichen Tricksereien herauskommt. Und spätestens wenn in
Stuttgart, München, Hamburg und Berlin Diesel nicht mehr in die Innenstadt
dürfen, ist der Diesel für den deutschen Markt de facto tot. Der Dieselgipfel
war vielleicht eine der letzten Chancen für die Branche, dem angekündigten
Desaster noch „proaktiv“ zu begegnen. Vielleicht haben die Hersteller nun aber
ihr Blatt überreizt. Denn die Justiz dürften sie nicht so einfach über den Tisch
ziehen wie die Politik.
Link zum Originaltext bei ' nachdenkseiten.de ' ..hier
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Tags: Automobilindustrie,
EU-Kommission, Kartell, Schweigekartell, Diesel-Abgasskandal,
systematischer Betrug |
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