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![]() 20.06.2017 8:20 De mortuis nihil nisi bene – Über die Toten nur Gutes sprechen? Helmut Kohl wird gefeiert. Er wird als Kanzler der Einheit und sogar als der bisher überragende Bundeskanzler hochgejubelt. Jetzt soll es sogar zum ersten Mal und einzigartig einen europäischen Staatsakt für ihn geben. Eines der Ziele dieser Jubelei ist offenkundig: die CDU soll dreieinhalb Monate vor der Bundestagswahl als die Staatspartei erscheinen. Dass Vertreter anderer Parteien an diesen Jubelgesängen mitmachen, ist deshalb besonders abstrus... [Quellen: nds.de / Albrecht Müller] JWD ...In diesen Tagen findet damit eine große Geschichtsfälschung statt. Um dies nicht glatt durchgehen zu lassen, muss an gravierende Schattenseiten des Wirkens von Helmut Kohl erinnert werden
1989 und 1990, also zu Zeiten des Endes des West-Ost-Konfliktes, war ich mit dem Bonner Korrespondenten meiner Regionalzeitung, der „Rheinpfalz“, befreundet. Klaus Hofmann war auch mit Helmut Kohl befreundet. Er warnte mich damals vor der gängigen Fehleinschätzung im fortschrittlichen Lager von Politik und Medien. Es gab dort, zum Beispiel auch im Spiegel, die auch unter Sozialdemokraten und Grünen übliche Lästerei über Helmut Kohl. Nicht sehr liebevoll und durchaus abwertend sprach man von Kohl als von der „Birne“ – damit war auch der Unterton einer gewissen geistigen Mittelmäßigkeit verbunden. Klaus Hofmann überzeugte mich davon, dass dahinter gravierende Fehleinschätzungen stecken. Kohl mache sich sehr langfristige und umfassende Gedanken. Das betraf in der damaligen Zeit vor allem die Entwicklung in der Sowjetunion nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. So jemanden wie diesen Kohl könnte man heute in der Politik gebrauchen. Denn was der Westen und auch die Bundesrepublik Deutschland im Umgang mit Russland tun, lässt darauf schließen, dass die heute handelnden Personen sich keine Gedanken darüber machen, welche Wirkung ihre Agitation und ihre Entscheidungen auf die innere Entwicklung Russlands haben.
Der Abbau der Konfrontation zwischen West und Ost und die deutsche Einheit wären ohne die Entspannungspolitik der Regierungen Brandt und Schmidt nicht möglich gewesen. Diese Entspannungspolitik wurde gegen die CDU/CSU eingeführt und von dieser dann im weiteren Verlauf zunächst nur halbherzig begleitet. Kanzler Kohl hat sich dann in dieser Funktion um die Vereinigung verdient gemacht, aber hat keineswegs die Grundlagen dafür erarbeitet. 3. Helmut Kohl hat als Bundeskanzler gravierende Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen beim Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu verantworten: a.) Er hat blühende Landschaften versprochen und damit überzogene Erwartungen erweckt. b.) Um eine wichtige Grundlage der wirtschaftlichen Blüte, nämlich die Erhaltung und Modernisierung der Betriebe der ehemaligen DDR hat er sich nicht ausreichend gekümmert. Die Tendenz von westlichen Unternehmen, Betriebe in der DDR platt zu machen, hat er nicht gekontert, im Gegenteil teilweise unterstützt. c.) Die Währungsumstellung mit dem Kurs eine D-Mark für zwei DDR-Mark war für die Betriebe der DDR eine Bedrohung. der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hatte davor gewarnt: „Die Unternehmen in der DDR werden schlagartig einer internationalen Konkurrenz ausgeliefert, der sie gegenwärtig nicht gewachsen sind.“ – Quelle: mz-web ©2017. Kohl und alle anderen wie Schäuble, und auch Teile der SPD, die diesen Kurs mitgetragen haben, könnten einwenden, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der DDR auf einem Kurs eins zu eins bestanden haben. Das ist richtig. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sogar die Umstellung eins zu zwei eine Katastrophe für die Betriebe der DDR darstellte. d.) Die Bedrohung für die Lebensfähigkeit von DDR-Betrieben wurde dann zusätzlich noch dadurch verschärft, dass die ostdeutschen Banken von der Regierung Kohl an die westdeutschen Banken zu einem subventionierten Preis abgegeben wurden. Sie wurden verscherbelt. Damit war folgendes verbunden: Die auf den Konten der ostdeutschen Banken stehenden Zuschüsse an DDR Betriebe für deren Investitionen wurden in Forderungen umgewandelt. Damit waren die DDR-Betriebe auf einen Schlag teilweise hoch verschuldet, bei westdeutschen Banken. Die Umwandlung war übrigens grobes Unrecht: Es war in der DDR üblich, dass die Betriebe ihre erwirtschafteten Gewinne an den Staat abgegeben haben; dafür wurden ihnen dann Zuschüsse für Investitionen gezahlt. Diese Zuschüsse waren also keine Kredite des Staates an die Betriebe, sondern eine Art Ausgleich für vorher abgeführte Gewinne. Über diesen Vorgang hat der stellvertretende Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel am 1.7.2005 auf der Basis eines unter Verschluss liegenden Gutachtens des Bundesrechnungshofs berichtet. Siehe hier: „Schulden ohne Sühne. 15 Jahre Währungsunion: Wie sich westdeutsche Banken auf unsere Kosten an fiktiven DDR-Krediten bereicherten“ von LORENZ MAROLDT. e.) Die Geschichte der Treuhand ist keine Erfolgsgeschichte. f.) Vom Vermögen, das von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR im Laufe der Jahre von 1945-1990 aufgebaut worden war, ist diesen Menschen mit wenigen Ausnahmen fast nichts geblieben. Das meiste ging an westdeutsche und sonstige westliche Personen, Firmen und sogenannte Investoren. 4. Die Regierung Kohl hat eine gravierende Fehlentscheidung zu verantworten, die unsere Gesellschaft und das Funktionieren der demokratischen Willensbildung und das Leben von Menschen und Familien gravierend beschädigt hat: die Kommerzialisierung der elektronischen Medien, also von Fernsehen und Hörfunk, und die Überflutung der Menschen mit diesen Programmen. Die Entscheidungen dafür wurden unmittelbar nach der Regierungsübernahme Kohls im Herbst 1982 getroffen. 1984 begannen die ersten kommerziellen Sender. In der Konkurrenz um die Einschaltquoten zwischen kommerziellen Sendern und öffentlich-rechtlichen ist dann das eingetreten, was die Kritiker dieser Entscheidung vorhergesagt haben: es gab nicht mehr Vielfalt, sondern mehr Einfalt. Die öffentlich-rechtlichen Programme haben sich den kommerziellen angepasst. Das alles konnte man wissen: Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sich bis zum Ende seiner Regierung im September 1982 dagegen gewehrt. Dabei ging es ihm nicht um Verbote oder etwas ähnliches, sondern nur darum, kein öffentliches Geld in die Vermehrung der Fernsehprogramme und in ihre Kommerzialisierung zu stecken. Die Regierung Kohl hat das dann massiv getan. Nachdem dann zehn Jahre später der Schaden der Kommerzialisierung für unsere Gesellschaft erkennbar war, weinte ein Politiker der CDU/CSU nach dem anderen Krokodilstränen – Günther Oettinger zum Beispiel, der für die Medienpolitik lange Zeit zuständige Bernhard Vogel und Ursula von der Leyen, damals Familienministerin. All die beklagten Schäden konnte man kennen. Helmut Schmidt hat sie in einem Beitrag für die „Zeit“ schon 1978 vorhergesagt. Siehe hier. Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes hat unter meiner Leitung dazu Untersuchungen gemacht und ausführlich dokumentiert, was auf unsere Gesellschaft und auf das, was wir Demokratie nennen, zukommt. Wer sich für dieses Thema und die Verantwortung der Regierung Kohl für eine gravierende Fehlentscheidung interessiert, findet im Kapitel 21 meines Buches „Meinungsmache“ weitere Informationen: „Das Verschwinden der Medien als kritische Instanz“. Unsere Gesellschaft, unsere ohnehin fragile Demokratie und die Familien und Kinder haben unter Kohls Fehlentscheidungen gelitten. Die Kommerzialisierung der elektronischen Medien wirkt bis heute als wirkliche Katastrophe nach. Kohl aber hat von der Kommerzialisierung persönlich und politisch viel profitiert. RTL und Sat eins und Prosieben haben ihn ausgesprochen freundlich behandelt. Einer der Sender hat ihm sogar einen eigenen Sendeplatz eingeräumt. 5. Kohl hat den Siegeszug des Neoliberalismus eingeleitet – zusammen mit Otto Graf Lambsdorff (FDP) und dem CDU-Politiker Hans Tietmeyer. Das Lambsdorff Papier vom 9. September 1982 enthält wichtige neoliberale Weichenstellungen. Das auch vom CDU-Politiker Hans Tietmeyer inspirierte Papier war eine Art Scheidungsurkunde der FDP für die sozialliberale Koalition. Siehe hier: Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vom 9. September 1982 im Original. 6. In Kohls Zeit als Bundeskanzler begann die Stagnation der Reallöhne und damit die weitere Öffnung der Schere bei der Einkommensverteilung in Deutschland Siehe dazu einen Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung. Der Niedriglohnsektor hat also nicht mit der Agenda 2010 und mit Gerhard
Schröder angefangen. Seine Regierung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit für das
Absinken der Reallöhne zwischen 2003 und 2007 verantwortlich. Aber eingeleitet
wurde diese Entwicklung vorher. Das hat etwas mit dem nächsten Punkt zu tun: Damit beende ich die Liste der kritischen Anmerkungen zum Wirken von Helmut Kohl
als Bundeskanzler. Mit Sicherheit gibt es weitere Anmerkungen zu machen. Die
obige Liste enthält jedoch so viele gravierende Einwände, dass die
Verantwortlichen, die sich ja auch um den Ruf unserer Demokratie und unseres
Landes zu kümmern haben, noch einmal überlegen sollten, ob sie die Kohlfeiern
wie begonnen weitertreiben.
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